Dienstag, 25. August 2015

Wiedererlangung von Autonomie

Die Welt konnte sich durch die Herstellung von Differenzen entwickeln. Aus einem völlig symmetrischen Zustand entstanden Unterschiede in einem Prozess, den wir Urknall nennen. Warum dies geschah wissen wir nicht. Wir wissen auch nicht, was vorher war.
Tatsache ist, dass die Entstehung von Unterschieden in einem vorher völlig verschränkten System - in dem alles mit allem verbunden war, wo Raum und Zeit nicht existierte - Potentiale für Energieflüsse eröffnete und damit Entwicklung ermöglichte, wodurch Raum und Zeit entfaltet wurden.

Nun wird sich der Leser fragen, wie dies das Thema Autonomie berührt?
Dabei ist zuerst zu bemerken, dass die Aufhebung der völligen Verbundenheit zu Autonomie führt.
Vollständige Autonomie kann aber auch nicht das Ziel dieser Welt sein, denn dies bewirkt die Zerstreuung der Bestandteile des Ganzen. Zerstreuung fassen die Physiker mit dem Begriff Entropie. Dieser Ausdruck umfasst den grundlegenden Wärmegehalt der Welt aus sich chaotisch bewegenden Einzelteilchen. Dieses Wärmebad der Welt weist keine Differenzen mehr auf und kann deshalb nicht mehr für gestalterische Entwicklungen auf Grundlage von durch Differenzen entstehenden Energieflüssen genutzt werden.
Physiker des 19. und frühen 20. Jahrhunderts sprachen hier vom Wärmetod des Weltalls, in dem jede Entwicklung verloren geht.

Glücklicherweise folgen aus der früheren Verbundenheit schöpferische Prozesse, die der Zerstreuung entgegen wirken und wieder neue Strukturen gestalten. Diese schöpferische Kraft kann aber nur wirken, weil Autonomie seit dem Urknall existiert. Ohne Autonomie wäre diese schöpferische Kraft einfach existent, aber wirkungslos. Still würde der Geist ruhen.
Wie auch immer wir nun diese schöpferische Ursache nennen, die heute für uns noch rätselhaft bleibt, erscheint offensichtlich, dass wir unsere Existenz dem Wechselspiel von schöpferischer Kraft und Wärmetod zu verdanken haben. Verschiedene philosophische und religiöse Richtungen nutzen verschiedene Begriffe. Buddhisten würden diesen Geist nun Dharmakaya nennen. Christen nutzen den Begriff Heiliger Geist. Esoteriker sprechen auch von allumfassender Vernunft.

Aber wie steht es mit unserer individuellen Vernunft in der Autonomie?
Wir können natürlich nicht die Augen davor verschließen, dass individuelle Vernunft in ihrem Bestreben, individuelle Vorteile in der Autonomie zu maximieren, viel Leid und Schaden bereitet hat.
Aber gleichzeitig waren Unterschiede und Autonomie in den Lebensweisen auch Treiber für Entwicklung von Gesellschaften, weil Unterschiede Energieflüsse eröffnen, wie hier schon begründet.

Was bedeutet es aber stattdessen grenzenlose Vernetzung zu schaffen und all unser Wissen und Sein in eine gemeinschaftliche Cloud einzubringen, indem wir die Aktivitäten in sozialen Medien maximieren, wie dies Unternehmen am Beispiel von Google und Facebook von uns erwarten? Hiermit schaffen wir Autonomie zugunsten der völligen Verschränkung ab und nehmen uns damit die Differenzen sowie damit die Potentiale und damit die Energieflüssen für Entwicklung. Der Roman "Der Circle" von Dave Eggers führt die Vision genannter Unternehmen in eine umfassende Form und zeigt damit die Gefahren des Verschwindens von Autonomie bei vollständiger Vernetzung in beeindruckender Form.

Hier soll nicht beurteilt werden, welcher Grad von Autonomie oder Verbundenheit sinnvoll ist. Darüber kann erst die Geschichte urteilen. Aber die Einführung auf Basis der Darstellung der Entwicklungsgrundlagen dieser Welt sollte klarstellen, dass wir Verbundenheit und Autonomie benötigen. Es geht also im Zusammenhang mit den sich beschleunigenden Prozessen der Globalisierung und der Vernetzung im Internet darum, das Wechselspiel zwischen Vernetzung und Autonomie neu zu definieren und in einem ständigen Prozess zu gestalten. Gerade in der Zeit neuer Chancen durch Digitalisierung auf Basis des Internets und virtueller Clouds der Gemeinschaft sollten wir intensiv die technischen Möglichkeiten zur Wiedererlangung von Autonomie entwickeln.

Dies gilt insbesondere für die Infrastrukturen unserer Gesellschaft. Die Kommunikations-Infrastruktur ermöglicht grenzenlose Informationsflüsse, sollte aber auch Grenzen der Informationsflüsse für Individuen und gesellschaftliche Gruppen ermöglichen. Ebenso können Energie-Infrastrukturen grenzenlose Energieflüsse ermöglichen, sollten aber auch autonome Energiekreisläufe ermöglichen.
Nicht umsonst organisierte die Natur das Leben in zellularen Strukturen, um das Wechselspiel von Autonomie und Verbundenheit zu ermöglichen. Es lohnt sich also das Bild der Zellen in der Gestaltung des Verhältnisses von Autonomie und Verbundenheit innerhalb der menschlichen Kultur zu nutzen, um die Diskussion um Dienste in der Cloud, um die Entwicklung der Infrastrukturen für Energie und Kommunikation sowie die Möglichkeiten zur Erhaltung von Individualität, Privatheit und Datenschutz anzuregen.

An dieser Stelle können wir noch einmal die Analogie zur modernen Physik suchen. Erst das Unbekannte und damit der Zufall ermöglicht Entscheidungsfreiheit und kreative Gestaltungsprozesse. In der Quantenphysik eröffnet das Unbekannte Möglichkeiten. In der Beobachtung vergeht die Wahlfreiheit und fixe Zustände werden eingenommen. Einstein sagte einmal während des Entstehens der Quantenphysik: „Gott würfelt nicht“. Aber hier irrte der große Meister. Gerade im Würfeln liegen die vielfältigen Entwicklungsmöglichkeiten. Eine von Google angedachte vollständige Algorithmisierung der Welt reduziert Wahlmöglichkeiten zugunsten einer angeblich logischen, mechanischen Entwicklung und nimmt damit die Vielfalt der Möglichkeiten zur Entfaltung des Lebens. Die Welt existiert im Zwischenraum von Zufall und Algorithmisierung und bei allen Chancen der Vernetzung müssen wir uns diesen Zwischenraum erhalten, um Weiterentwicklung zu ermöglichen.

Auf Grundlage dieses Verständnisses der Entwicklungsprozesse in der Welt ergeben sich logisch hier zitierte Forderungen aus dem schon genannten Buch von Dave Eggers:
„Wir müssen alle das Recht auf Anonymität haben. Nicht jede menschliche Aktivität ist messbar. Die ständige Jagd nach Daten, um den Wert eines jeden Vorhabens zu quantifizieren, ist katastrophal für wahres Verständnis. Die Grenze zwischen Öffentlichem und Privatem muss unüberwindlich bleiben. Wir müssen alle das Recht haben, zu verschwinden.“