Mittwoch, 3. Oktober 2012

Diskussionsbeitrag zur interdisziplnären und transdisziplinären Zusammenarbeit zur Gestaltung der Energiewende am Tag der deutschen Einheit



Am Tag der deutschen Einheit  heute, gerade im neuen Haus in Leimen bei Heidelberg sitzend, beginnen die Gedanken zu schweifen.
Gerade wird mir wieder bewusst, dass es immer wieder in Umbruchphasen gilt, das Unmögliche zu Denken. Gerade den Menschen aus den ostdeutschen Bundesländern hatte die Zeit zwischen 1989 und 1990 deutlich gemacht, dass nichts unmöglich ist.
Insofern möchte ich den heutigen Tag nutzen, die Gedanken auf den Umbruch in unserem Energiesystem zu lenken, der nicht nur die Anpassung an Erneuerbare Energien bedeutet, sondern einen Paradigmenwechsel mit sich bringt. Dieser Paradigmenwechsel besteht darin, dass wir von einer linearen Wertschöpfungskette mit unidirektionaler Elektrizitätsverteilung zu einem Wertschöpfungsnetzwerk mit bidirektionalen Energieflüssen übergehen, wobei auch der Energiemarkt einen Designwechsel im Rahmen der zukünftig volatileren sowie gleichzeitig lastfernen und dezentraleren Erzeugung erfahren wird.
Es gilt Energie neu zu denken. Gerade deswegen bewegt mich die Diskussion der letzten Tage zur Definition von Prozessen in diesem Energiesystem sowie zur Normung und zur Profilierung von Normen sehr. Aus diesem Grunde möchte ich heute ein paar Anmerkungen zu diesem Thema zur Diskussion veröffentlichen , die ich bewusst nicht als Vertreter eines Unternehmens oder als Mitwirkender in verschiedenen Gremienaktivitäten äußere, sondern als Person zu Papier bringe, die sich um den Erfolg der Energiewende sorgt und die im Sinne des Gesamtsystems denkt, ohne die Gedanken aus einer Interessensicht eingrenzen zu wollen.
Seitdem ich 2001 als Berater in der Zeit des E-Business-Hypes in die Energiewirtschaft einstieg, durfte ich die Entwicklung zu diskriminierungsfreien Datenaustauschprozessen beginnend bei der EDNA-Initiative, der Bildung von VWEW-Modellen und Nachrichtentypen, über die Verbändevereinbarung VV2, die Festlegungen der BNetzA zu Prozessen und Nachrichtentypen bis hin zur heutigen Arbeit unter der Dachmarke EDI@Energy miterleben. Dies war immer ein beispielgebender Prozess, den ich selbst vielfältig bei der deutschen und europäischen Normungsarbeit zur Use Case-Definition und zur Ableitung von Normen für Kommunikation und Sicherheit aus Use Cases zitiere. Hierbei wurden aber insbesondere die Prozesse zwischen einer begrenzten Anzahl von Akteuren der Energiewirtschaft mit Lieferanten, Netzbetreibern, Bilanzkreisverantwortlichen und Bilanzkreiskoordinatoren einer linearen Wertschöpfungskette über die Enterprise-Systeme dieser Akteure betrachtet.
Worin besteht nun der Paradigmenwechsel?
Der Hauptanspruch im zukünftigen Energiesystem besteht in der Markt- und Netzintegration des Endkunden als Netznutzer mit ihren dezentralen Erzeugungsanlagen in den Verteilungsnetzen und in den Liegenschaften der Endkunden sowie in der Entwicklung von Maßnahmen zur Verbrauchssteuerung bis hin zu automatisierten Energieeffizienzdienstleistungen zur Flexibilisierung des Energiesystems und zur Senkung des Energieverbrauches. Die Vielfalt der verteilten Erzeugungsanlagen in allen Spannungsebenen erfordert weiterhin neue Formen der automatisierten Netzführung in hierarchischer Abstimmung über die Spannungsebenen und die Netzbetreiber hinweg, mit wachsender Verantwortung beim Verteilungsnetzbetreiber. Der Kern dabei besteht in der bezüglich der Datenmengen exponentiell zunehmenden, echtzeitfähigen, automatisierten Maschine-zu-Maschine-Interaktion im Smart Grid als vernetzende Infrastruktur für Markt- und Netzakteure.
Die grundlegende Erkenntnis aus Smart Grid-Forschungsprojekten im E-Energy-Rahmen sowohl im darin eingebetteten moma-Projekt sowie von Strategiegesprächen beim BMBF, BMU und BMWi besteht darin, dass der Erfolg der Energiewende nur durch eine interdisziplinäre Zusammenarbeit von Energiewirtschaft, IKT-Industrie, Herstellern elektrotechnischer Anlagen und Geräte sowie durch eine transdisziplinäre Zusammenarbeit mit den Praxispartnern in der Politik bis hin in die Kommunen sowie den heterogenen Nutzergruppen als Interessenträger mit vielfältigen Formen einer zukünftigen Beteiligung gelingen kann.
Insofern ist auch die Frage zu stellen, inwieweit  heutige Formen der Zusammenarbeit im Rahmen energiewirtschaftlicher Arbeitskreise zur Use Case-Modellierung, zur Prozessdefinition sowie zur Profilierung von Normen ausreichend sind oder besser durch eine branchenübergreifende Zusammenarbeit (z.B. von BDEW, VKU, ZVEI, VDE, BITKOM) zu ersetzen ist. Insbesondere stelle ich mir auch die Frage, ob nicht eine Trennung von erstens fachlichen Definitionen (fachliche Use Cases inkl. nichtfunktionale Use Cases zur Gewährleistung von Informationssicherheit, Prozessdefinitionen, Informationsmodelle) sowie zweitens von Normungsfestlegungen und zur Profilierung von Normen im Arbeits- und Festlegungsprozess gestaltet werden sollte, um fachliche und technische Definitionen in unterschiedlicher Halbwertszeit bearbeiten zu können. Aus meiner Sicht muss es auch möglich sein, bei der Neugestaltung von System- und Marktdesign  bisher verwendete Kommunikationsnormen wie EDIFACT im Rahmen einer bis zum Endkunden vernetzten Energiewelt und Maschine-zu-Maschine-Kommunikation ohne Denkverbote in Frage zu stellen.
Wir gestalten gemeinsam die Energiewende und beschreiben damit „am offenen Herzen“ den Übergang in eine neue Energiewelt. Insofern plädiere ich für eine intensivere, branchenübergreifende und stärker koordinierte Arbeit bei Fachdefinitionen sowie eine Zusammenarbeit bezüglich der technischen Definitionen auf einer neutralen Grundlage. Dafür bietet sich bezüglich der genannten zweiten Ebene im Spezifikationsprozess mit der technischen Normung und der Normenprofilierung der internationale Rahmen von IEC/ISO, der europäische Rahmen von CENELEC/CEN/ETSI sowie der deutsche Rahmen von DKE und DIN an. Branchenübergreifende Verbandsgespräche zur Nutzung dieses Rahmens bei der Neudefinition von Prozessen für die zukünftige Energiewelt, zur Normung, zur Normenprofilierung und zur Festlegung von Testverfahren zur Feststellung von Interoperabilität von Komponenten im Smart Grid mit Erzeugern, Verbrauchern, Speichern, Netzautomatisierungsmitteln, virtuellen Kraftwerken und Aggregatoren sollten deshalb sehr zielführend sein.
Indem ich uns also eine erfolgreiche weitere Zusammenarbeit nach diesem 23. Tag der deutschen Einheit bei der Gestaltung der Energiewende wünsche, verbleibe ich

mit sonnigen Grüßen

Andreas Kießling